Daß es den Leuten dauerhaft besser geht, ist ein Wunsch, den ich gern unterschreibe. Aber wir müssen realistisch bleiben. Im Moment können wir nur Löcher stopfen, mit Spenden z. B. an "Ärzte ohne Grenzen" das uns Mögliche tun, um den akut Betroffenen zu helfen. Und wir können im Urlaub in der Dominikanischen Republik einem haitianischen Gärtner für Trinkgeld eine geöffnete Kokosnuss abkaufen, die er gerade von einer Hotelpalme geholt hat, damit sie keinem Touri auf den Kopf fällt, ihm ein paar Basecaps/Schuhe/T-Shirts für sich und seine Kinder schenken, etc. und ihm vor allem mit Respekt begegnen. Anders kommen wir derzeit an die Menschen leider nicht ran...
Damit es den Menschen langfristig besser geht... ein hehrer Wunsch, dem vielleicht auch ein Stück weit die Mentalität im Wege steht.
Ich hole etwas aus:
Als ich meine ersten Wochen der Reiseleiterzeit auf der Isla Margarita direkt im Zentrum von der größten Stadt der Insel, Porlamar, gelebt habe, war es für mich ein recht krasser Kulturschock. Ich hatte gemeinsam mit eienr belgischen Kollegin eine Traumwohnung (für damalige Reiseleiterverhältnisse): Jeder ein eigenes Bad, große Küche mit Kühl-/Gefrierkombi, Mikrowelle, Backofen, sogar Spülmaschine, Fernseher, Waschmaschine, Trockner, Klimaanlage...alles da. Sogar einen Jacuzzi hatten wir auf unserer großen Terrasse. Von der Terrasse aus blickten wir direkt auf ein Armutsviertel, welches auch durchquert werden musste, um den mit hohen Eisentoren gesicherten Parkplatz zum Appartement zu erreichen. Und wo unsere Nachbarn bei Regen mit einem Stück Seife auf die Straße rannten und "geduscht" haben, weil sie kein fließendes Wasser hatten und den Strom nur aus illegal angezapften Leitungen bezogen ;( . Für mich eine kranke Welt - ich als kleine Reiseleitung als Gast im fremden Land lebte mit allem Komfort und ein paar Meter unter mir müssen die Einheimischen im Regen duschen :hmpf:
Eines Abends "sprach" mich ein Mann an, als ich gerade dabei war, das Eisentor zum Parkplatz aufzuschließen. Eigentlich war er nett - er wollte mich zwar wohl ursprünglich überfallen und ausrauben, ich habe ihn angeranzt, daß er mir lieber helfen soll, das sauschwere Tor aufzuschieben und habe ihm ein Abendessen und ein regelmäßiges kleines Einkommen, wenn er einmal in der Woche mein Auto wäscht, in Aussicht gestellt...schlussendlich war er mit meiner Tüte voller Lebensmittel und Getränken zufrieden, die ich kurz zuvor im Supermarkt besorgt hatte. Vielleicht habe ich ihn auch einfach überrumpelt, weil ich ihn auf spanisch angeranzt habe - damit hatte er sicherlich nicht gerechnet. Irgendwie war ich ihm aber wohl symphatisch und er hat mich eingeladen, in den nächsten Tagen doch einfach mal auf ein Bier bei seiner Familie und ihm vorbeizuschauen. Sie wohnten schräg gegenüber von der Garageneinfahrt. Das tat ich (natürlich brachte ich Bier, Cola, Chips, etwas Obst und ein Paket Windeln für den Familiensproß mit) zwar mit mulmigem Gefühl, aber ich habe es nicht bereut - denn die Familie und auch die Nachbarn haben danach auf mich aufgepasst. Der Familienvater stand abends, wenn ich normalerweise nach hause kam, parat und hat die Einfahrt bewacht, damit mir nichts passiert, hat hingebungsvoll mein Auto gewaschen (wofür ich ihn natürlich bezahlt habe) - mir ist da nichts passiert und ich fühlte mich beschützt.
Die geselligen Abende vor der Hütte der Familie wurden mehrfach wiederholt. Ich fragte den Familienvater einmal, warum er nicht nach mehr strebt. Warum er sein Können nicht z. B. in einer Autowaschanlage einbringt, wo er regelmäßig und vor allem mehr verdient, als wenn er Gelegenheitsjobs macht. Seine Antwort war: "Ich bin glücklich mit dem, was ich habe. Ein paar Gaunereien, hier und da mal Autowaschen - reicht" Meine Gegenfrage: "Ok, aber willst Du nicht fliessendes Wasser haben? Und eine Klimaanlage? Und einen Fernseher?" Er: "Hab ich doch. Das Wasser fließt manchmal vom Himmel, wenn mir warm ist, geh ich in den großen Supermarkt und fernsehen kann ich im Schaufenster von Radio Shack... Wichtig ist, daß meine Familie etwas zum Essen und zum Trinken hat und das alle gesund sind." Ich: "Ja, aber...willst Du deinen Kindern keine bessere Zukunft ermöglichen? Willst Du nicht, daß sie, wenn sie erwachsen sind, einen guten Job bekommen, daß sie vielleicht sogar studieren können?" Er: "Wir sind glücklich mit dem, was wir haben und machen das Beste daraus. Wer weiß schon, was morgen ist..."
Genau dieses "Wir sind glücklich mit dem, was wir haben" ist einerseits etwas, was ich bewundernswert finde und von dem wir uns eine dicke Scheibe abschneiden könnten. Wir sind ja irgendwie nie zufrieden und wollen immer mehr und mehr und mehr... Auf der anderen Seite behindert dieses fehlende Streben nach "mehr" und das "nicht an morgen denken" aber auch vieles :hmpf: Diese "Leichtigkeit des Seins" zieht sich irgendwie durch viele Karibikstaaten. Mal mehr, mal weniger ausgeprägt. Einerseits bewundernswert aus unserer Sicht, andererseits auch schwierig (auch aus unserer Sicht). Der gesunde Mittelweg fehlt.
Das schreckliche Erdbeben sehe ich für Haiti als Chance. Als Chance für einen kompletten Neuanfang. Jetzt steht ein Land, das sonst keinen wirklich interessiert hat, plötzlich im Focus, bekommt internationale Unterstützung, kann sich neu finden und neu organisieren. Ich hoffe inständig, daß diese Chance trotz aller Trauer auch genutzt wird.